„Es gibt keine gesunden Menschen, nur schlechte Diagnosen.“ Diesen Sinnspruch geben Ärzte gerne mit einem Augenzwinkern zum Besten. Was sich so lustig anhört, hat einen ernsten Hintergrund. Denn allzu oft wird aus einem gesunden ein kranker Patient – weil er zu viele oder die falschen Medikamente schluckt.
Doch es werden nicht nur falsche Diagnosen gestellt, sondern auch Krankheiten erfunden. Besonders erfindungsreich sind Ärzte und Psychologen, wenn es um die Definition neuer Störungen geht. Denn wer aus einer eigentlich normalen Marotte ein behandlungsbedürftiges Syndrom macht und der neuen Krankheit einen Namen gibt, ist sich der Aufmerksamkeit von Fachwelt und neuer Patienten gewiss. Und die Pharmaindustrie freut es, denn für jede neue Krankheit hält sie die passenden Medikamente parat.
Welche Syndrome unter anderem erfunden wurden und welche Krankheiten zu vorschnell und falsch diagnostiziert werden, listet folgende Aufstellung:
Inhaltsverzeichnis
Erfundene Syndrome
Im Englischen gibt es einen Begriff, der sich „Disease Mongering“ nennt. Damit ist die aus medizinischer Sicht unzulässige Zuordnung normalen Verhaltens oder biologischer Vorgänge zu behandlungsbedürftigen Krankheiten gemeint. Beispiele: Glatzenbildung bei Männern oder Hormonschwankungen während der Wechseljahre bei Frauen.
Viele neue Krankheiten sind zudem aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen wie dem aus Hollywood importierten Fitness- und Jugendkult entstanden. Auch das in der Werbung und durch die plastische Chirurgie ständig propagierte Schönheitsideal verunsichert die Menschen zunehmend. Botoxbehandlungen und Faltenunterspritzung mit Hyaluronsäure gibt es fast an jeder Ecke. Viele Menschen reagieren auch auf den zunehmenden Konkurrenzdruck im Arbeitsalltag, denn wer sich behaupten will, muss jung, schön und fit sein. Dass dies zu Stress und Depressionen führt, liegt auf der Hand. So verschreiben Ärzte Berufstätigen heute doppelt so viele Antidepressiva als noch vor zehn Jahren.
Wer heute jedoch übertrieben eitel oder ehrgeizig ist, oder sich als Mann allzu jungenhaft verhält, läuft bereits Gefahr, als psychisch gestört zu gelten – wie diese erfundenen Syndrome zeigen.
» Dorian-Gray-Syndrom
Der Begriff wurde im Jahr 2000 während einer Tagung zur Lifestyle-Medizin durch den Gießener Psychologen Burkhard Brosig geprägt. Das Syndrom zählt zu den so genannten „Lifestyle“-Krankheiten und bezeichnet die Unfähigkeit, den eigenen Alterungsprozess zu akzeptieren. Diese äußert sich im übertriebenen Gebrauch von Lifestyle- und Anti-Aging-Produkten wie Haarwuchsmittel, Antiadiposita, Potenzmittel, Antidepressiva zur Stimmungsmanipulation, Inanspruchnahme der Angebote der kosmetischen Dermatologie sowie der Inanspruchnahme der Angebote der ästhetischen Chirurgie. Die Betroffenen lehnen ihren eigenen Körper ab (Dysmorphophobie). Da die exzessive Form des Dorian-Gray-Syndroms laut Definition auch eine Suizidgefährdung in sich trägt, empfiehlt Brosig bei starker Ausprägung neben der Psychotherapie auch die Behandlung mit Medikamenten. Das Syndrom als solches wurde bis heute noch nicht in die medizinischen Diagnoseschlüssel aufgenommen.
» Peter Pan Syndrom
Das Syndrom beschreibt Männer, die durch ihr unreifes Verhalten auffallen, sich offenbar weigern, erwachsen zu werden und Verantwortung zu tragen. Das Syndrom wurde in den 80er Jahren durch den amerikanischen Familientherapeuten Dan Kiley geprägt und später von John J. Ratey (Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School) aufgegriffen. Der Wissenschaftler ordnet das Syndrom unter bestimmte Gehirnabweichungen, die er als „Schattensyndrome“ definiert. Unter Schattensyndromen versteht Ratey bisher kaum diagnostizierte leichte Formen schwerer psychischer Störungen. Über diese Erkenntnisse der Neuropsychiatrie berichtete Ratey gemeinsam mit Catherine Johnson in dem 1998 erschienenen Buch „Shadow Syndromes: The Mild Forms of Major Mental Disorders That Sabotage Us.“ Demzufolge basiert das Peter-Pan-Syndrom mehr auf biologischen Faktoren, die sich in chemischen Vorgängen des Gehirns manifestieren. Gemäß den Thesen des Familientherapeuten Dan Kiley ist das Peter-Pan-Syndrom durch folgende Symptome definiert:
- Verantwortungslosigkeit:
Der Betreffende drückt sich vor seinen Pflichten. Ignoriert Regeln, schiebt Aufgaben vor sich her. Er sucht die Schuld an Misserfolgen nicht bei sich selbst. - Angst:
Er verbirgt ein Schuldgefühl gegenüber den Eltern, verarmt emotional und wird unfähig zu tiefer Liebe für andere Menschen. - Einsamkeit:
Aus dem Gefühl, vom Vater abgelehnt zu werden, entwickelt sich eine permanente Suche nach Freunden, die jedoch erfolglos bleibt. - sexueller Rollenkonflikt:
Unsicherheit und mangelndes Selbstvertrauen, wird durch prahlerisches Verhalten und typisches Macho-Gehabe kompensiert. Eine gleichberechtigte und durch Offenheit geprägte Partnerschaft ist nicht möglich. - Narzissmus:
Selbstverliebtheit, Perfektionismus. - Chauvinismus:
verächtliche sexistische Einstellung.
Diese mehr im Sinne der populärwissenschaftlichen Verbreitung aufgestellten Symptome beschreiben jedoch keine eigenständige Krankheit, sondern vielmehr ein Verhaltensmuster, wie unreif und verantwortungslos wirkende Männer ihre Beziehungen gestalten. Das Peter-Pan-Syndrom ist ein populärer Begriff, der sich vor allem im Bereich der Familientherapie niedergeschlagen hat. Bedenklich ist die Einstufung John J. Ratey, demzufolge das Peter-Pan-Syndrom durch Änderungen im Gehirn entstehen soll. Damit wird das Syndrom in die Nähe einer psychischen Erkrankung gerückt – meist ein Freibrief für die Verschreibung von Psychopharmaka.
» Sissi-Syndrom
Dieses Syndrom wurde 1998 erfunden und bezeichnet eine angebliche Form der Depression, die durch Stimmungsschwankungen, körperliche Hyperaktivität, ständige Diäten und die Sorge um das Körpergewicht gekennzeichnet ist. Gefährdet sollen aktive junge Menschen sein. Betroffen sind mehr Frauen als Männer. Benannt wurde das Syndrom nach Sissi, der Kaiserin von Österreich, die ihren Körper durch ständigen Sport in Form hielt, von Unrast getrieben wurde und an Depressionen litt. Bezeichnend ist, dass der Begriff weder von Medizinern noch von Psychologen geprägt wurde, sondern von einer PR-Agentur. Erst die Werbung und das daraufhin einsetzende mediale Interesse brachten das Sissi-Syndrom in Umlauf. Eine unabhängige Forschergruppe kam bereits Anfang 2003 zu dem Schluss, dass das Syndrom wissenschaftlich unbegründet und keine eigenständige Krankheit sei. In diesem Zusammenhang ist es bedenklich, dass sich einige junge Frauen im Sissi-Syndrom wiedererkannt haben und glaubten, sie müssten sich aufgrund einer Depression in psychotherapeutische Behandlung begeben.
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Falsche Diagnosen
Wie schnell es passieren kann, dass man als gesunder Mensch unnötig therapiert wird, zeigt in eindrucksvoller Weise folgendes berühmte Experiment:
Um die Zuverlässigkeit von psychiatrischen Diagnosen zu testen, unterzog sich der amerikanische Psychologe David Rosenhan in den 60er Jahren einem Selbstversuch. Er wusch sich ein paar Tage nicht und begab sich in schmutziger Kleidung in eine psychiatrische Anstalt. Den Psychiatern erklärte Rosenhan, er vernehme merkwürdige Stimmen im Kopf, die ihm die Worte „empty“, „hollow“ und „thud“ zurufen würden. Obwohl diese Symptome keiner offiziellen Diagnose entsprachen, wurde er stationär aufgenommen.
Das Experiment wurde wiederholt. Zwischen 1968 und 1972 begaben sich mehrere gesunde Menschen mit den gleichen Symptomen in unterschiedliche psychiatrische Anstalten. Nach der stationären Aufnahme verhielten sie sich normal, wurden jedoch bis zu 52 Tage mit Medikamenten behandelt. Teilweise wurde die Diagnose „Schizophrenie“, teilweise die Diagnose „Manisch-depressive Psychose“ gestellt. Als „Rosenhan-Experiment“ bekannt geworden, führten die Versuchsergebnisse dazu, dass das US-amerikanische Handbuch für Mediziner „Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen“ (DSM) geändert wurde. Statt vager Beschreibungen wurden jetzt für jede psychische Erkrankung mehrere Symptome definiert. Aus diesen Symptomen musste zukünftig eine Mindestanzahl zutreffen, bevor eine gesicherte Diagnose gestellt werden durfte. Das DSM ist das offizielle Handbuch amerikanischer Ärzte und Psychologen und dient zur Diagnose hunderter psychischer Krankheiten und Störungen. Doch es steht weiterhin unter Kritik. Denn gleich mehrere Autoren des DSM erhalten Honorare von der Pharmaindustrie. Der vermutete Verdacht: Die Autoren werden dahingehend manipuliert, den Katalog der Symptome so weit auszudehnen, dass möglichst viele untersuchte Patienten unter die Diagnosen fallen und mit Medikamenten behandelt werden müssen.
In der Tat fällt auf, dass einige Krankheiten in den letzten Jahren signifikant zugenommen haben. Dies ist weniger darauf zurückzuführen, dass immer mehr Menschen tatsächlich erkranken. Vielmehr werden Diagnosen vorschnell und falsch gestellt. Darüber hinaus schaden die verschriebenen Medikamente eher, als dass sie den Patienten helfen. Unter anderem ist dies bei folgenden Krankheiten der Fall:
» ADHS
Die Symptome für ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) sind mittlerweile so komplex, dass die eindeutige Diagnose erschwert wird. Die jüngsten Diskussionen um die aktuelle Auflage des amerikanischen DSM-V bestätigen dies:
Im Zuge der Planungen für die Neuauflage des Diagnose-Handbuchs der American Psychiatric Association hatte sich herausgestellt, dass mehr als die Hälfte der Autoren der ADHS-relevanten Kapitel Einkünfte von der Pharmaindustrie erhalten hatten. Befürchtet wurde, dass durch die Honorare die Objektivität der Autoren beeinflusst wird. So bestünde bei ADHS die Möglichkeit, dass die Kategorien zu weit gefasst wurden, so dass praktisch jedes Kind unter die Diagnose falle. In Deutschland nimmt die Diagnose ADHS zu. Ein Bericht der Barmer GEK zur ADHS auf dem Jahr 2013 bestätigt, dass vor allem immer mehr Jungen die Diagnose ADHS erhalten. Die Bundesärztekammer geht von 300.000 bis 500.000 betroffenen Patienten aus. Zudem verschreiben Ärzte Kindern deutlich häufiger Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat, bekannt als Ritalin. Die Barmer schätzt, dass 10 Prozent aller Jungen mindestens einmal in ihrer Kindheit das Mittel verschrieben bekommen. Die gegenwärtige Diskussion dreht sich darum, ob wirklich immer mehr Kinder psychisch krank sind und tatsächlich an ADHS leiden oder ob lebhafte und unangepasste Kinder vorwiegend ruhig gestellt werden sollen.
» Burnout Syndrom
Im Gegensatz zu anderen psychischen Erkrankungen findet die Diagnose „Burnout-Syndrom“ allgemein gesellschaftliche Anerkennung. Denn wer sich im Job verausgabt, zeigt Leistung und Disziplin – Eigenschaften, die vor allem in der westlichen Welt als Tugenden gelten. Deshalb ist die Hemmschwelle wesentlich geringer, sich aufgrund beruflicher Ausgebranntheit in ärztliche Behandlung zu begeben. Doch die Grenzen des Burnout-Syndroms zu anderen Krankheiten wie dem Chronischen Erschöpfungssyndrom oder der Depression sind fließend. Urlaubsreifen Patienten werden etwa vorschnell Antidepressiva verschrieben. Oder depressiv Erkrankten wird eine Kur empfohlen – im Fall der Suizidgefahr eine fatale Entscheidung. Das Burnout-Syndrom ist international keine anerkannte Krankheit. Vielmehr wird Burnout in der „Internationalen Klassifikation der Erkrankungen“ (ICD-10) als „Ausgebranntsein“ und „Zustand der totalen Erschöpfung“ erfasst. Gemäß dieser Einstufung ist Burnout eine Rahmen- oder Zusatzdiagnose und keine Behandlungsdiagnose, die beispielsweise die Einweisung in ein Krankenhaus ermöglichen könnte. Dagegen ist die Feststellung einer Depression sehr wohl eine Behandlungsdiagnose. Dies ist einer der Gründe, weshalb bei ausgebrannt wirkenden Patienten schnell die Diagnose „Depression“ gestellt wird.
» Schizophrenie
Die schwere psychische Erkrankung ist durch Störungen des Denkens, der Wahrnehmung und der Affektivität gekennzeichnet. Auch die Grenzen der Schizophrenie zu anderen Krankheiten sind fließend, da sämtliche Symptome auch durch Epilepsie, andere Erkrankungen des Gehirns, Stoffwechselstörungen, Depressionen sowie durch den Konsum oder den Entzug von Drogen hervorgerufen werden können. Neben der Problematik einer falschen Diagnose besteht bei tatsächlich an Schizophrenie erkrankten Patienten die Gefahr, dass die eingenommenen Medikamente das Leiden sogar noch verschlimmern. Zu dem Ergebnis kam eine Forschergruppe, welche die Behandlung von Schizophrenie in armen und reichen Ländern verglich. In den USA und sechs weiteren Industrieländern erhielten 61 Prozent der Patienten Neuroleptika. In Indien, Kolumbien und Nigeria nahmen nur 16 Prozent der Patienten Neuroleptika ein. Das Ergebnis: Bei Patienten aus den armen Ländern verlief die Schizophrenie glimpflicher.
Die amerikanische Psychiaterin Nancy Andreasen hatte per Kernspintomografie die Gehirne von mehreren hundert Schizophrenie-Patienten untersucht und musste feststellen, dass die Gehirne unter der Gabe von Medikamenten geschrumpft waren. Eine andere Studie mit insgesamt 965 Patienten bestätigte dies. Der Verlust des Nervengewebes schränkt nachweislich das Denkvermögen der Patienten ein und die Symptome der Schizophrenie bleiben. Volkmar Aderhold vom Institut für Sozialpsychiatrie in Greifswald: „40 Prozent der Menschen aus dem Schizophreniespektrum könnten ohne Neuroleptika behandelt werden. Wir geben Neuroleptika viel zu oft, in zu hohen Dosierungen und in wissenschaftlich nicht evidenten Kombinationen.“